Die bisherige Interpretation [direkt
zur Kritik] [direkt zum Fazit]
Es gab etliche Interpretationsversuche der Himmelsscheibe von Nebra, doch die
meisten stellten beim näheren Hinsehen als wenig plausibel heraus. Die vordergründige
Interpretation etwa als Sonne und Mond und Sterne ist aus mehreren Gründen
unwahrscheinlich, u.a. weil die Mondsichel gewissermaßen "falsch herum"
zur Sonne stünde: der "beleuchtete" Teil der Sichel müßte
zur Sonne weisen, und nicht von ihr weg...
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Die wesentlichen Elemente der Interpretation von Meller/Schlosser.
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In nun rund zweijährigen wissenschaftlichen Erwägungen hat man versucht,
die Spreu vom Weizen zu trennen, und es hat sich schließlich eine gemischt
lebenspraktisch-astronomisch-mythische Interpretation herauskristallisiert, die
nun gemeinsam mit der Ausstellung der restaurierten Scheibe veröffentlicht
wurde. Dieser Interpretationsversuch - der in der Presse als "Entschlüsselung"
gefeiert wurde - geht hauptsächlich auf den Archäologen Harald Meller
(Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt) und den Astronomen Wolfhard
Schlosser (Ruhr-Universität Bochum) zurück.
Herstellung in Etappen
Die Gesamtinterpretation von Meller/Schlosser gründet auf der Annahme,
daß die Himmelsscheibe von Nebra in größeren Zeitabständen
zwei Mal bildlich erweitert worden ist. Diese Erweiterungen seien im Zusammenhang
mit Bedeutungswandlung zu begreifen, die sich im Laufe der Zeit, während
der kultischen Benutzung der Scheibe, ergeben hätten. Die Nutzungsdauer der
Scheibe wird auf 100 bis 400 Jahre geschätzt. Anfangs seien nur Vollkreis,
Sichel und Punkte vorhanden gewesen, in zwei späteren Erweiterungen wären
einerseits die großen Bögen links und rechts hinzugefügt, andererseits
der stärker gekrümmte Goldbogen «zwischen die Sterne gezwängt»
worden, wobei die Reihenfolge nicht klar ist, aber so wie hier angegeben vermutet
wird. Abschließend wurde die Scheibe randlich gelocht. Für diese Herstellungsphasen
werden als Indizien genannt: zwei verdeckte Sterne (unter dem rechten Goldbogen),
ein "versetzter" Stern, phasengerecht unterschiedliche Zinn- und Silberbeimengungen
der Goldauflagen, verschiedene Arbeitsstile u.a.
Diese Hypothese der phasenweisen Benutzung und Umänderung ermöglicht
es nun, die einzelnen Bildelemente - jeweils zugeordnet zu ihrer Herstellungsphase
- einzeln und unabhängig voneinander zu deuten:
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Phase I: Die Grundelemente zur Bestimmung
bäuerlicher Termine, samt neutralem Sternenhimmel. |
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Phase II: Beim Hinzufügen der Horizontbögen
seien zwei Sterne verdeckt, einer versetzt worden. |
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Phase III: Sodann sei die Sonnenbarke unten
zwischen die Sterne gezwängt worden. |
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Phase I: Vollmond, (zunehmende) Mondsichel, Plejaden, und Sternenhimmel
Die 32 sichtbaren Goldpunkte seien, wie umfangreiche statische Untersuchungen
ergeben hätten, vorsätzlich so aufgebracht worden, daß außer
der markanten Siebenergruppe kein konkretes Sternbild erkennbar sei. Diese sieben
eng zusammenstehenden Goldpunkte stellten die Plejaden dar, und bezeichneten zusammen
mit dem Vollkreis und der Sichel, die als Vollmond und zunehmende Mondsichel interpretiert
werden, Beginn und Ende des bäuerlichen Jahres, und zwar - nach archäoastronomischen
Berechnungen von Wolfhard Schlosser - den 10. März und den 17. Oktober (nach
heutigem Kalender). Hinweise für die Bedeutung der Plejaden zur Berechnung
dieser Termine seien vor allem überlieferte Bauernregeln.
Phase II: Horizontbögen
Die großen Goldbögen links und rechts bezeichnen einen Winkel von
82 bis 83 Grad. Dieser Winkel stimmt mit jenem überein, den man vom Fundort
aus gesehen zwischen den extremen Sonnenständen am 21. Juni und am 21. Dezember
auch tatsächlich messen würde. Eine geringfügige Asymmetrie - die
beiden Bögen sind um 1 bis 2 Grad nach oben verschoben - entspricht recht
genau den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort, weil durch die Lichtbrechung
der Erdatmosphäre die Sonnenaufgänge und -untergänge nach Norden
hin verschoben erscheinen: ein eindrucksvolles Indiz sowohl für diese Deutung,
als auch für die originäre Zuordnung der Himmelsscheibe nach Mitteldeutschland.
Phase III: Sonnenbarke
Der stärker gekrümmte, durch zwei durchgehende Linien strukturierte
Goldbogen unten stelle ein mythisches Element dar: Ein Schiff, vielleicht eine
Sonnenbarke, die die Sonne vom Westen in den Osten zurücktransportiert. Jedoch:
"Die genaue Bedeutung des Schiffes wird sich kaum exakt fassen lassen."
(Meller). Indiz für die Deutung als Schiff sei vor allem die "Fiederung",
d.h. eine Strichelung am Ober- und Unterrand dieses Bogens, die eine Art Ruder
andeuten sollen. Halbwegs ähnliche Darstellungen sind aus der nordischen
Welt der Bronzezeit bekannt.
Sonstiges
Als Zweck der späteren Randlochung wird eine eventuelle Befestigung der
Scheibe erwogen. Die Deformationen am Scheibenrand links oben stammten vom Raubgräber.
Der linke Horizontbogen allerdings sei noch in der Antike entfernt worden, oder
abgefallen.
Weitere Angaben und Einzelheiten findet man in: Harald Meller (Hrsg.): Der
geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren, Theiss
2004.
Kritik
Die Horizontbögen halte ich im Ansatz für richtig interpretiert.
Die Kritik an der Deutung des unteren Goldbogens als Schiff oder "Sonnenbarke"
beschränke ich darauf, das er schlicht nicht wie ein Schiff aussieht. Hier
konzentriert sich meine Kritik daher auf die Hypothesen gemäß der vermeintlichen
Herstellungs-/Benutzungsphase I (Zwei Monde zur Bestimmung von bäuerlichen
Terminen), sowie auf die unterstellte, etappenweise Herstellung.
Zwei Monde ?
Zunächst verblüfft ist die These, daß hier zweimal der Mond
dargestellt sein sollte, zumal es sich doch, wie die angeblich "vorsätzlich
regelmäßige" Verteilung der Sterne nahelegt, im wesentlichen um
eine "Himmelsdarstellung", und eben nicht um eine symbolische Darstellung
handeln soll. Zwei Monde wurden noch niemals am Himmel gesichtet. Doch selbst
wenn wir dies gelten lassen, insofern zwei verschiedene Zeitpunkte zugleich dargestellt
wären: wieso werden Vollkreis und Sichel, wenn sie beide den Mond bedeuten,
verschieden groß dargestellt?
Mondsichel > Vollmond > Plejaden ?
Und wie kommt es, daß die Plejaden kleiner dargestellt sind
als beide Monde? Auch wenn es verblüfft: Der Sehwinkel der Plejadensterne
ist größer (!) als der Sehwinkel des Mondes. Mit anderen Worten:
Der Mond "passt" mit seiner scheinbaren Größe (ca. 0,5°)
in den inneren Kreis der Plejadensterne. Und weil die Neigung der Mondbahn gegenüber
der Ekliptik ca. 5° beträgt, die Plejaden aber nur etwa 4° von der
Ekliptik entfernt liegen, kommt es sogar bisweilen vor, daß der Mond diesen
inneren Bereich der Plejaden zu überstreichen scheint, so daß es über
diese Größenverhältnisse keine Zweifel oder optische Täuschungen
(wie die viel zitierte "Mondtäuschung") geben kann...
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Ist der Mond etwa durchsichtig, oder hat man sich schlicht
keine Mühe gegeben?
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Durchsichtige Mondsichel ?
Einer Kultur, die jahrtausendelang Sterne beobachtet hat (z.B. die nur 30 km
vom Fundort der Scheibe entfernte Kreisgrabenanlage Goseck wird auf 4.600 v.Chr.
datiert), dürfte aufgefallen sein, daß der unbeleuchtete Teil der Mondsichel
nicht durchsichtig ist. Innerhalb des Außenkreises der goldenen Sichel befinden
sich aber 5 Sterne, und zudem wäre auch noch ein kleiner Teil des goldenen
Vollkreises verdeckt. Dort kann kein Stern hindurch leuchten, auch nicht bei einer
Mond- oder Sonnenfinsternis, und auch nicht als optische Täuschung. Für
mein Empfinden wäre diese Ungereimtheit gerade noch entschuldbar,
wenn nicht die "Durchsichtigkeit" der Sichel durch jenen Stern, der
sich innerhalb der Verbindungslinie der Sichel-Ecken befindet, derart
überspitzt würde , daß die Darstellung geradezu wie die eines
kleinen Kindes erscheint.
Die Sichel wurde aber nicht von einem Kleinkind mit Wasserfarbe mal eben hingepinselt,
sondern wurde offenbar mit einem erheblichen Aufwand unter Anwendung präziser
Konstruktionsmethoden (exakte Zirkel) und wertvoller Materialien von einem der
hervorragendsten Techniker seiner Zeit hergestellt. Es darf weiter angenommen
werden, daß dieser nicht aus reinem Zeitvertreib, sondern im Auftrag anderer
mit einer klaren Zielvorgabe handelte. Jener Mensch hat sich genau überlegt,
wie er vorgeht, was er tut, und was er läßt. Wie reimt sich das mit
der These, hier sei eine (durchsichtige) Mondsichel dargestellt?
Mondtermine ?
Die Arbeitshypothese von Meller/Schlosser bezüglich des goldenen Vollkreises
und der Sichel lautet, daß diese im Zusammenhang mit den Plejaden Beginn
und Ende des bäuerlichen Jahres recht genau darstellten, und zwar den 10.
März und den 17. Oktober. Der Mond hat jedoch mit festen Terminen des Sonnenjahres
nichts zu tun. Auch am 10. März kommt jede beliebige Mondphase vor, zum Beispiel
Vollmond, und nach einem solchen Ereignis ist 221 Tage (entsprechend ca. 7,5 Mondzyklen)
später, am 17. Oktober, Neumond. Wie wäre diese Konstellation unter
der besagten These mit dem Bildinventar der Himmelsscheibe vereinbar? [siehe
Kapitel: Mondtermine]
Dogma der Astronomie
Es ist höchst fragwürdig, ob Sterne zur Organisation des bäuerlichen
Jahres jemals auch nur annähernd eine so hohe Bedeutsamkeit hatten, wie es
in der Astronomie behauptet wird, und wie es nun in der Arbeitshypothese von Meller/Schlosser
Eingang gefunden hat. Es ist viel wahrscheinlicher, daß die Bauern der Vorzeit
die jahreszeitlichen Naturabläufe sehr genau kannten, einzuschätzen
und vorherzusehen wußten, und somit in der Lage waren, auch ohne einen Blick
zum Sternenhimmel bäuerliche Termine sehr exakt zu bestimmen, und die jeweils
gebotenen Tätigkeiten in der richtigen Reihenfolge durchzuführen. [siehe
Kapitel: Dogma der Astronomie]
Fehlender Sinn
Die Himmelsscheibe von Nebra wurde allem Anschein nach mit erheblichen Aufwand
an Zeit und Gehirnschmalz unter Verwendung seltener und wertvoller Materialien
(Kupfer, Zinn, Gold) von einem der hervorragendsten Techniker seiner Zeit unter
Anwendung hochpräziser Konstruktionsmethoden (exakte Zirkel) geschaffen.
Es macht schlicht keinen Sinn, daß intelligente, mit Erinnerung und der
Fähigkeit zu planender Vorausschau begabte Wesen eine banale Bauernregel
auf eine derart aufwendige Weise in Gold auf Bronze verewigen. Die Leichtigkeit,
mit der sich die Menschen der Bronzezeit diese einfache Regel merken konnten -
denn sie waren in ihrer Merkfähigkeit geübt, weil sie noch
keine Schrift kannten - stünde in einem absurden Verhältnis zum Aufwand,
der hier betrieben worden ist.
Fehlender Sinn-Zusammenhang
Ein erheblicher Schwachpunkt der Gesamtdeutung von Meller/Schlosser ist schließlich
der unterstellte, merkwürdige Bedeutungswandel der Scheibe. Danach wären
nach der letzten Erweiterung der Scheibe drei völlig verschiedene Sachbereiche
miteinander vereint: erstens eine lebenspraktische Bauernregel, zweitens präzise
empirische Wissenschaft, und drittens die mythische Vorstellung einer Sonnenbarke.
Ein solches Konglomerat aus Praxis, Theorie und Glauben ohne jeden Sinnzusammenhang
- wie vermag das nachvollziehbar auf eine einzige Scheibe gelangen?
Das Nachvollziehen soll mit zwei Zusatzannahmen gelingen: Erstens, die Scheibe
sei ein «Kultgegenstand» gewesen, der zweitens über einen sehr
langen Zeitraum in Gebrauch war:
«Da für die Beifunde die Umlaufzeit auf etwa 100
Jahre begrenzt ist, würde eine gleichzeitige Fertigung der Himmelsscheibe
und der Beifunde eine mehrfache Veränderung der Scheibe während eines
vergleichsweise kurzen Zeitraumes bedeuten. Dies ist zwar nicht ausgeschlossen,
wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Himmelsscheibe als Kultgegenstand über
längere Zeit genutzt wurde und ihr Bildprogramm nur in größeren
Abständen Änderungen erfuhr.» (Meller, in: DGH,
S.30)
Das könnte zwar sein, doch von «wahrscheinlich» kann hier nun
wirklich keine Rede sein. Es ist nicht einmal geklärt, ob es sich bei der
Himmelsscheibe von Nebra überhaupt um einen «Kultgegenstand» handelt:
das ist eine bloße Annahme. Und daß Kultgegenstände derart tiefgreifende
Bedeutungsbrüche gleich mehrfach durchstehen, ohne durch Neue ersetzt zu
werden, ist mindestens sehr bedenklich.
Sorgfalt statt Umdeutungen
Die Ungereimtheit der gemischten Deutung (Banalität/Wissenschaft/Mythos)
wird durch diese völlig ungewissen Zusatzannahmen nicht geklärt, sondern
nur ins Dunkel einer überaus rätselhaften, letztlich unaufklärbaren
historischen Entwicklung abgeschoben.
Zudem liegt für die Phasentheorie keine andere Evidenz vor, als daß
man die verschiedenen Bildelemente der Scheibe ansonsten nicht in einen Zusammenhang
zu bringen vermochte. Daß die Scheibe in aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten
hergestellt worden ist, ist völlig selbstverständlich. Wenn verschiedene
Indizien (Legierungen, Arbeitsstiele) auf einen gewissen zeitlichen Rahmen bei
der Herstellung hindeuten, so sind diese glaubwürdiger mit einer besonderen
Sorgfalt bei der Herstellung erklärbar.
Fazit
Nach meiner Auffassung besagt die Interpretation von Meller/Schlosser, daß
es sich bei der Himmelsscheibe von Nebra um eine Himmelsdarstellung mit zwei unterschiedlich
großen, teilweise durchsichtigen Monden handelt, die von wahrnehmungsgestörten
Bauern zwecks Wiedererkennung der Jahreszeiten sicherheitshalber unter Anwendung
präziser Zirkel auf einer Bronzescheibe in Gold verewigt wurde, welche trotz
ihrer Banalität Kultstatus erlangte, so daß man sie späterhin
für wert befand, sie zunächst um die tatsächlich vor Ort beobachtbaren
extremen Sonnenauf/untergänge, sodann um eine nirgendwo zu beobachtende Sonnenbarke
zu erweitern... unhaltbar!
Darüber hinaus ist auf der Himmelsscheibe von Nebra ein umfangreiches
geometrisches Beziehungsgeflecht vorhanden, das deutlich auf eine gemeinsame Planung
aller Bildelemente hinweist. Und spätestens hier gerät die Gesamtdeutung
von Meller/Schlosser aus den Fugen, weil kaum zu begreifen wäre, wie eine
banale Bauernregel, präzise Wissenschaft und eine importierte, mythologische
Vorstellung Grundlage eines einzigen Planes sein könnte...
[weiter mit: Wertschätzende Interpretation der sogen.
"Himmelsscheibe von Nebra"]
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